Technische Einleitung

Zwei biologische Phänomene

Die meisten Menschen, die ins Kino gehen machen sich überhaupt nicht klar, daß sie Augenzeuge eines Wunders werden. Denn die Illusion einer "zweiten Wirklichkeit" beruht auf zwei, allen Menschen innewohnenden Eigenschaften: Dem stroboskopischen Effekt und der Nachbildwirkung auf der Netzhaut des Auges.

Der stroboskopische Effekt besteht darin, daß unser Auge Einzelbilder, die geringfügige Inhaltsunterschiede in einer beliebigen Richtung aufweisen, wenn sie schnell genug wecheln, nicht mehr als Einzelbilder sieht, sondern zu einer kontinuierlichen Bewegung zusammensetzt. Es kommt zu einer Bewegungstäuschung, die umso natürlicher wirkt, je schneller die einzelnen Phasen wechseln. Alte Stummfilme mit einer Bildfrequenz von 16 Bildern pro Sekunde zeigen mitunter solch holprige Bewegungen. Die Nachbildwirkung beruht auf der Trägheit des Auges: Die Netzhaut hält das wahrgenommene unbewegte Einzelbild einen kurzen Moment fest, so daß es vom nächstfolgenden überlagert wird. Wenn zum Beispiel bei sonst völliger Dunkelheit für einen kurzen Augenblick ein Lichteffekt, also ein erleuchtetes Bild, den Sehnerv aktiviert, dann wirkt dieser Effekt noch für eine kurze Zeit (etwa 1/8 Sekunde) nach. Falls dann weitere Phasenbilder nachgeschoben werden, kommt der stroboskopische Effekt zur Wirkung: Wir sehen nun eine Bewegung, die nicht mehr ruckweise, sondern geschmeidig verläuft.


Für eine flimmerfreie Verschmelzung der Einzelbilder ist eine Frequenz von mindestens 48 Bilder pro Sekunde erforderlich. Dennoch erfolgt die Aufnahme und Wiedergabe von Filmen mit einer Frequenz von nur 24 (beim Stummfilm 16) stehenden Bildern pro Sekunde. Der flimmerfreie Eindruck entsteht dadurch, daß der Filmprojektor die Wiedergabe des stehenden Bildes mit einer sogenannten Flügelblende zweimal unterbricht und es so in zwei gleiche Einzelbilder zerlegt. Auf diese Weise wird die Frequenz von 48 Bildern pro Sekunde erreicht. Bei der Aufnahme wie bei der Wiedergabe darf sich der Film selbst jedoch nicht kontinuierlich bewegen; er muß vielmehr in gleichmäßigem Takt ruckartig am Objektiv vorbeitransportiert und zwischendurch völlig zum Stillstand gebracht werden.


Das "neue" Sehen

Die beiden biologischen Phänomene, die das Veschmelzen von Einzelbildern zu einer fließenden Bewegung erzeugen und auf dem Weg über das Auge ins Gehirn und damit in die Seele eindringen, machen das Erlebnis Film überhaupt erst möglich.
Unser "Ich" vereinigt sich mit einem nicht realen künstlichen fremden Geschehen zu einer neuen Wahrnehmung. Wir vergessen alles andere um uns her und tauchen tief in eine "neue Welt". Die Ähnlichkeit mit dem Traum ist unübersehbar. Die Metapher vom Film als "Traumfabrik" ist also ganz und gar gerechtfertigt. Doch ist "Film" in solchem Zustand der Unschuld immer noch nicht das, was die wahre Faszination des Kinos ausmacht. Schließlich kann man ja auch triste Wirklichkeit abfilmen mit unbewegter Kamera, ohne Schnittmontage und ohne Inszenieren des Geschehens, also reine Dokumentation. Erst das, in historischen Schüben entwickelte "neue Sehen" hat den Film in den Rang einer Kunstgattung erhoben. Der Film hat seine eigene "Sprache", seine eigene "Grammatik" entwickelt.

  Anne M. Haasis,
Text in Auszügen von:
Hartmur Wrede und
Dr. Gerd Albrecht,
Chronik des Films, 1994, Chronik Verlag



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